28/10/2021

Im Pandemie-Jahr 2020 nahmen Invasionen in indigene Landgebiete und Morde an Indigenen zu

Der Jahresbericht von Cimi zeigt die anhaltend hohe Gewalt gegen indigene Völker in Brasilien, selbst in einem von Covid-19 geprägten Jahr

Relatório Violência Contra os Povos Indígenas no Brasil - dados de 2020

Der Report Gewalt gegen die Indigenen Völker Brasiliens – Daten von 2020 (Violência Contra os Povos Indígenas do Brasil – dados de 2020), jährlich herausgegeben vom Indigenisten-Missionsrat (Conselho Indigenista Missionário, Cimi – Fachstelle der katholischen Kirche für Indigenenfragen), präsentiert das Bild eines tragischen Jahres für die indigenen Völker Brasiliens. Wider Erwarten hat die von der Corona-Pandemie verursachte schwere Gesundheitskrise die Landschwindler, Erzschürfer, Holzfäller und andere Invasoren nicht daran gehindert, ihre Angriffe auf indigene Territorien weiter zu intensivieren.

Das zweite Jahr der Regierung von Jair Bolsonaro bedeutete für die indigenen Völker die Fortdauer und Vertiefung eines äußerst besorgniserregenden Szenarios in Bezug auf ihre Rechte und Territorien sowie ihre Leben, die nicht nur besonders von der Covid-Pandemie betroffen sind, sondern auch von den Versäumnissen der Bundesregierung bei der Aufstellung eines koordinierten Plans zum Schutz der indigenen Communitys.

Das Jahr 2020 in Brasilien war geprägt von einer hohen Zahl von Todesfällen wegen des schlechten Managements bei der Pandemie-Bekämpfung, die durch Falschinformationen und Untätigkeit der Bundesregierung stark beeinträchtigt war. Das war schon für die brasilianische Bevölkerung im Allgemeinen eine sehr traurige Realität, aber für die indigenen Völker war es eine echte Tragödie.

In vielen Fällen wurde das Virus, das ihre Dörfer erreichte und Todesfälle verursachte, von Invasoren eingeschleppt, die während der Pandemie in diesen Territorien weiterhin illegal wüteten, und es fehlten die in der Verfassung verankerten Kontroll- und Schutzmaßnahmen, die seitens der Regierungen hätten erfolgen müssen.

Der Report stellte fest, dass im Jahr 2020 die Fälle von „Besitzinvasionen, illegaler Ausbeutung von Ressourcen und Sachschäden“ im Vergleich zu der bereits alarmierenden Zahl im ersten Jahr der Regierung Bolsonaro weiter gestiegen sind. Im Jahr 2020 wurden 263 Fälle dieser Art registriert. Das bedeutet eine Zunahme gegenüber 2019 (256 gemeldete Fälle) und einen Anstieg von 137% gegenüber 2018 (111 gemeldete Fälle). Dies war der fünfte Anstieg in Folge, der bei der Invasion in indigene Landgebiete registriert wurde.

Die im Jahr 2020 registrierten Invasionen und Fälle von Ausbeutung natürlicher Ressourcen und Sachschäden wiederholen das im Vorjahr festgestellte Muster. Die Invasoren sind im Allgemeinen illegale Holzfäller, Erzschürfer, Jäger und Fischer, Farmer und Landschwindler, die in indigene Landgebiete eindringen, um sich illegal Holz anzueignen, oder die auf der Suche nach Gold und anderen Mineralien ganze Flüsse verseuchen oder große Flächen für Viehweiden abholzen und abbrennen. In vielen Fällen teilen Invasoren das Land in „Parzellen“ auf, die illegal gehandelt werden, sogar in indigenen Territorien, in denen isolierte Völker leben.

Diese Gruppen und Einzelpersonen handeln in der Gewissheit der – oft ausdrücklichen – Zustimmung der Regierung, deren Verhalten in Umweltfragen in dem berüchtigten Satz des damaligen Umweltministers Ricardo Salles zusammengefasst wurde: Man müsse die Pandemie nutzen, um „die Rinderherde [der Deregulierung] durchzutreiben“ (symbolischer Ausdruck für „alles plattwalzen“, „Agrobusiness-Interessen mit Gewalt durchsetzen“).

Der Fall der Völker Yanomami, Ye’kwana und Munduruku veranschaulicht den engen Zusammenhang zwischen den Aktionen der Invasoren, der Untätigkeit des Staates und der Verschärfung der Gesundheitskrise. Im „Indigenen Territorium Yanomami“, wo man die illegale Präsenz von etwa 20.000 Erzschürfer vermutet, verwüsten die Invasoren das Territorium, provozieren Konflikte, verüben Gewalttaten gegen die Indigenen und fungieren obendrein als Übertrager des Coronavirus – in einem Gebiet, in dem auch indigene Völker in freiwilliger Isolation leben.

In vielen Dörfern hat die Pandemie alten Menschen das Leben gekostet, die wahre Hüter der Kultur, der Geschichte und des Wissens ihrer Völker waren. Das bedeutet einen unschätzbaren kulturellen Verlust nicht nur für die direkt betroffenen indigenen Völker, sondern für die gesamte Menschheit. Nach Angaben der Articulação dos Povos Indígenas do Brasil (Artikulation der Indigenen Völker Brasiliens, APIB) infizierten sich im Jahr 2020 mehr als 43.000 Indigene mit Covid-19, und mindestens 900 starben an den Folgen der Krankheit.

Die Gewalttaten gegen indigene Völker und ihre Territorien stehen im Einklang mit dem Diskurs und der Praxis einer Regierung, die die Öffnung indigener Gebiete für zerstörerische Ausbeutung zum Ziel hat, diese Gebiete für private Aneignung verfügbar macht und die Interessen großer Unternehmen in Agrobusiness, Bergbau und anderen großen Wirtschaftsgruppen fördert.

Diese politische Option der Bundesregierung wird belegt durch zahlreiche Reden des brasilianischen Präsidenten selbst und durch praktische Maßnahmen wie den Gesetzentwurf (Projeto de Lei, PL) 191, den die Regierung im Februar 2020 dem Nationalkongress vorlegte, oder die Durchführungsverordnung (Instrução Normativa, IN) 09, die im April von der Nationalen Indio-Stiftung (Fundação Nacional do Índio, Funai) herausgegeben wurde.

Während PL 191/2020 unter anderem die Öffnung indigener Landgebiete für Bergbau, Gas- und Ölgewinnung sowie den Bau von Wasserkraftwerken vorsieht, ermöglicht IN 09/2020 die Zertifizierung von Privatgrundstücken auf indigenem Land, das noch nicht abschließend anerkannt ist. Dazu gehören Gebiete in einem fortgeschrittenen Stadium der Demarkierung und Gebiete mit eingeschränkter Nutzung wegen dort lebender isolierter Völker.

Diese Maßnahmen hatten auch direkten Einfluss auf die Zunahme der Fälle von „Konflikten um territoriale Rechte“, die sich gegenüber dem Vorjahr mehr als verdoppelten. In 2020 gab es 96 solcher Fälle, 174% mehr als die 35 im Jahr 2019 identifizierten.

Erschreckend ist auch die erhebliche Zunahme von Morden an Indigenen in Brasilien. Im Jahr 2020 wurden 182 Indigene ermordet – 61% mehr als 2019, als 113 Morde bekannt wurden.

Ein Gesamtbild dieses düsteren Szenarios lässt sich daran erkennen, dass die Gesamtzahl in den Kategorien „Gewalt gegen Personen“ und „Gewalt gegen indigenes Eigentum“ im Jahr 2020 gegenüber 2019 zwar nicht bei allen Formen von Gewalt zugenommen hat, aber die höchsten der letzten fünf Jahre ist. Im gleichen Zeitraum waren die Fälle von „Gewalt durch Untätigkeit der Behörden“ nur geringer als im Jahr 2019, dem ersten Regierungsjahr von Bolsonaro.

Die vom brasilianischen Präsidenten während seines Wahlkampfes angekündigte Aussetzung der Demarkierung indigener Gebiete ist nach wie vor eine Leitlinie seiner Regierung

Foto: Chico Batata/Greenpeace Brasil

Foto: Chico Batata/Greenpeace Brasil

Gewalt gegen Eigentum

In Bezug auf die drei Arten von „Gewalt gegen Eigentum“, die das erste Kapitel des Reports bilden, wurden folgende Daten erfasst: Untätigkeit und Herauszögerung bei der Landregulierung (832 Fälle); Konflikte um territoriale Rechte (96 Fälle); Besitzinvasionen, illegale Ausbeutung natürlicher Ressourcen und verschiedene Sachbeschädigungen (263 registrierte Fälle). Das ergibt insgesamt 1.191 Fälle von Gewalt gegen das Eigentum indigener Völker im Jahr 2020.

Die vom brasilianischen Präsidenten während seines Wahlkampfes angekündigte Aussetzung der Demarkierung indigener Gebiete ist nach wie vor eine Leitlinie seiner Regierung. Von den 1.299 indigenen Territorien Brasiliens gibt es bei 832 (64 %) noch unerledigte Details, die zu ihrer Regularisierung nötig sind. Darunter sind 536 Gebiete, die von indigenen Völkern beansprucht werden, bei denen jedoch noch keinerlei staatliche Maßnahmen für den Verwaltungsprozess der Identifizierung und Demarkierung eingeleitet wurden.

Foto: Inácio Werner/CEDH-MT

Foto: Inácio Werner/CEDH-MT

Gewalt gegen Personen

Im Jahr 2020 sahen die im zweiten Kapitel des Reports systematisierten Daten zu „Gewalt gegen Personen“ wie folgt aus: Machtmissbrauch (14); Morddrohungen (17); verschiedene Bedrohungen (34); Mord (182); Totschlag (16); vorsätzliche Körperverletzungen (8); Rassismus und ethnische und kulturelle Diskriminierung (15); versuchter Mord (13); sexualisierte Gewalt (5). Im Jahr 2020 wurden insgesamt 304 Fälle von Gewalt gegen indigene Personen registriert. Diese Gesamtzahl ist höher als im Jahr 2019, als 277 Fälle identifiziert wurden.

Die Bundesstaaten mit den meisten Morden an Indigenen im Jahr 2020 waren nach Angaben des Sondersekretariats für indigene Gesundheit (Secretaria Especial de Saúde Indígena, Sesai) und der staatlichen Gesundheitssekretariate: Roraima (66), Amazonas (41) und Mato Grosso do Sul (34). Leider enthalten die von Sesai und den Bundesstaaten bereitgestellten Daten keine detaillierten Informationen über die Opfer oder die Umstände dieser Morde, was eine weitere Analyse unmöglich macht.

Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang zwei Fälle, die sich während verheerender Aktionen der militarisierten Polizei ereigneten. Im Bundesstaat Amazonas geschah der Fall, der als „Massaker am Rio Abacaxis“ bekannt wurde. Der Konflikt wurde durch Touristen verursacht, die zur Sportfischerei illegal in das Territorium indigener Völker und Uferbewohner in der Region der Flüsse Abacaxis und Marimari eindrangen. Bei einem Einsatz der Polizei starben zwei Indigene vom Volk der Munduruku und mindestens vier Uferbewohner. Außerdem gab es zwei weitere Vermisste und mehrere Berichte über Menschenrechtsverletzungen durch Polizisten. Im Bundesstaat Mato Grosso wurden vier Indigene vom Volk der Chiquitano, die in der Nähe ihres Dorfes auf Jagd waren, von Polizisten der Sondergruppe Grenze (Grupo Especial de Fronteira, Gefron) getötet.

Es muss betont werden, dass viele der Fälle von Machtmissbrauch, Bedrohungen und Rassismus sowie ethnischer und kultureller Diskriminierung geschahen, wenn Indigene wegen der Pandemie Hilfe oder Behandlung suchten. Neben den Todesfällen und dem Hunger, von denen viele Gruppen in extremer Vulnerabilität betroffen waren, verschärften Vorurteile und Rassismus das Leiden der indigenen Völker während der Corona-Krise.

Sem apoio do governo, em muitos territórios, como na TI Xakriabá (MG), os povos indígenas ergueram suas próprias barreiras sanitárias e organizaram estratégias autônomas de proteção contra a Covid-19. Foto: Edgar Kanaykõ Xakriabá

Foto: Edgar Kanaykõ Xakriabá

Gewalt durch Untätigkeit der Behörden

Im Vergleich zu 2019 war kein Anstieg zu verzeichnen, aber die Fälle von „Gewalt durch Unterlassung der Behörden“ im Jahr 2020 zusammen mit dem Vorjahr blieben auf einem hohen Niveau im Vergleich zu den Jahren unmittelbar vor der Regierung Bolsonaro.

Aufgrund des Gesetzes über den Zugang zu Informationen (Lei de Acesso à Informação, LAI) erhielt Cimi von Sesai auch Teildaten zu Selbstmord und zur Sterblichkeit bei indigenen Kindern. Im Jahr 2020 wurden in Brasilien insgesamt 110 Selbstmorde von Indigenen registriert. Nach wie vor sind die Bundesstaaten Amazonas (42) und Mato Grosso do Sul (28) die mit den meisten Fällen. Es gab keinen Anstieg im Vergleich zu 2019, als Daten von Sesai 133 Selbstmorden verzeichneten.

Ebenfalls nach Daten von Sesai wurden im Jahr 2020 776 Todesfälle von Kindern im Alter von 0 bis 5 Jahren registriert. Auch hier waren die Bundesstaaten mit den meisten Fällen dieselben wie im Vorjahr: Amazonas (250), Roraima (162) und Mato Grosso (87). Es gab, wie bei den Suiziden, keinen Anstieg der Fallzahlen im Vergleich zu 2019, aber Sesai betont, dass die Daten vorläufig sind und sich noch ändern können.

In dieser Kategorie wurden dazu noch folgende Daten erfasst: allgemeiner Mangel an Unterstützung (51); mangelnde Unterstützung im Bereich der indigenen Schulbildung (23); mangelnde Unterstützung im Gesundheitsbereich (82); Verbreitung von alkoholischen Getränken und anderen Drogen (11); Todesfälle aufgrund mangelnder Gesundheitsversorgung (10). Das ergibt insgesamt 177 Fälle.

Auch in diesem Kapitel stehen die meisten gemeldeten Fälle in direktem Zusammenhang mit der Pandemie und der fehlenden Unterstützung durch die Behörden, insbesondere im Gesundheitsbereich. Die fehlende Unterstützung beim Aufbau von Gesundheitsbarrieren an den Grenzen indigenen Territorien, die Unterbrechung oder Unterlassung der Versorgung mit grundlegenden Lebensmitteln und Hygienematerialien, die für die Gewährleistung von Mindestbedingungen für Covid-Schutz und -Prävention nötig sind, waren einige der häufigsten registrierten Fälle in diesem Kapitel.

Artikel und Daten zur Pandemie

Außer den Daten für das Jahr 2020 stellt der Report auch Artikel vor, die zur Vertiefung der Reflexion über die Realität der indigenen Völker in Brasilien einladen. Drei von ihnen behandeln die Auswirkungen der Pandemie auf indigene Völker, begleitet von einer Übersicht zu Daten zu Todesfällen und Corona-Ansteckung unter Indigenen, die von APIB und Sesai für das Jahr 2020 zusammengestellt wurden. Die Texte behandeln die Auswirkungen der Pandemie auf die indigenen Völker des Landes, die Untätigkeit der Bundesregierung bei der Reaktion auf die Krise sowie die Situation von Indigenen, die während der Pandemie im Gefängnis waren. Darüber hinaus diskutieren zwei weitere Artikel Rassismus und Diskriminierung gegen die indigenen Völker und die Ableitung von Flusswasser durch die Agrarindustrie im Bundesstaat Tocantins.


*Übersetzung aus dem Brasilianischen: Monika Ottermann

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